Tausend Zeilen Lüge von Juan Moreno
Rezension

„Tausend Zeilen Lüge“ von Juan Moreno oder: Journalismus-Skandal als Reportage

Als der Spiegel im Dezember 2018 den Relotius-Skandal im eigenen Haus bekannt machte, habe ich alle Berichte und Kommentare mit Spannung gelesen. Eine ganze Weile lang war Claas Relotius das beherrschende Thema in allen Medien und auch bei allen Kanälen, die sich mit Journalismus beschäftigen (etwa Übermedien, Bildblog, etc.). Doch wie das immer so ist, wurde der Skandal eine Weile lang thematisiert und anschließend trat das Thema wieder in den Hintergrund, weil andere Meldungen relevanter wurden. Umso interessierter war ich, als Juan Morenos Tausend Zeilen Lüge angekündigt wurde.

Wer sind Claas Relotius und Juan Moreno?

Für alle, die mit den beiden Namen gar nichts anfangen können, gebe ich eine ganz knappe Zusammenfassung: Relotius und Moreno waren freie Journalisten, die beide unter anderem beim Spiegel Reportagen veröffentlicht haben. Im Gegensatz zu festen Journalisten sind freie Journalisten, nun ja, eben frei und können ihre Berichte bei verschiedenen Medien veröffentlichen. Sie haben so eine gewisse journalistische Freiheit in ihrer Themenwahl. Andererseits sind sie als Selbständige natürlich auch auf regelmäßige Veröffentlichungen angewiesen. Im Journalismus hat sich darum seit langem das Prinzip „Feste freie Journalisten“ etabliert, bei dem die Journalisten formal weiterhin frei sind (und damit kein Arbeitnehmerverhältnis mit regelmäßigem Gehalt besteht), sie aber beispielsweise durch von einem Medium regelmäßig vorausgezahlte Spesenzahlungen ihren Lebensunterhalt sichern, während sie an ihren Geschichten arbeiten. Das Medium wiederum hat dadurch ein Vorrecht auf die so entstehenden Berichte und außerdem Weisungsbefugnis für die zu recherchierenden Themen.

Relotius und Moreno sollten 2018 gemeinsam eine Reportage (aus zwei verschiedenen Blickwinkeln) für den Spiegel verfassen, wobei Relotius als älterer und vielfach mit Journalistenpreisen ausgezeichneter Kollege den Bericht verfassen und Moreno ihm dazu zuarbeiten sollte. Weil Moreno von Relotius Arbeitsweise irritiert war und seine Bedenken beim Spiegel nicht ernstgenommen wurden, begann er nach Veröffentlichung der gemeinsamen Reportage mit weiteren Recherchen – diesmal allerdings versuchte er, auf eigene Faust, die Recherche Relotius zu rekonstruieren und auf Fehler abzuklopfen. Dabei deckte er schlussendlich nicht nur Fehler bei dieser besagten Recherche auf, sondern konnte Relotius das systematische und bewusste Fälschen von einigen hochgelobten Reportagen nachweisen. Als die ganze Geschichte öffentlich wurde, war dies für den Spiegel ein absolutes Desaster. Denn der Spiegel galt immer als bestrecherchierendes deutsches Medium mit einer großen eigenen Dokumentar-Abteilung, die nichts anderes macht als die Berichte der eigenen Journalisten inhaltlich zu prüfen.

Die Geschichte eines Skandals

Dass Moreno selbst als Journalist Reportagen schreibt, merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Auch, wenn er einen unglaublichen Skandal aufdeckt und die gesamte Geschichte chronologisch aufrollt, gibt es immer wieder beispielhafte Anekdoten oder kurze Vorgriffe auf spätere Ereignisse, die den Fakten zusätzliches Gewicht verleihen. Dieser Stil macht das Buch nicht nur unterhaltsam und zugänglich, sondern auch interessant für alle, die von Journalismus wenig wissen. Denn Moreno erklärt ganz nüchtern und dennoch anschaulich und schafft es dabei fesselnd zu erzählen.

Im Großen und Ganzen erzählt das Buch chronologisch die Recherchereise von Moreno, zuerst für die gemeinsame Reportage mit Relotius, über die anfänglichen Zweifel und erste Versuche die ganze Geschichte gemeinsam mit dem Spiegel aufzuklären bis hin zur eigenständigen Recherche über das Vorgehen Relotius nach immer mehr Merkwürdigkeiten. Ganz abseits des eigentlichen Skandals ist das Buch also nebenbei auch ein Zeugnis von der umfangreichen Recherchearbeit die Journalisten unternehmen, die es sich nicht wie Relotius einfach machen, indem sie sich Fakten und Zitate ausdenken.

Aber es gibt auch Kapitel in denen Moreno kurz abschweift und über das Genre der Reportage, das Prinzip des Dokumentieren und Prüfens oder den deutschen Journalismus allgemein schreibt. So wird der ganze Skandal als auch für Nicht-Journalisten greifbar und einordbar. Insgesamt ist das Buch äußerst lesenswert, weil es einen großen Journalismus-Skandal nachzeichnet und viel über den Journalismus in großen Medien vermittelt. Das ist nicht nur für diejenigen interessant, die sich sowieso schon für Journalismus interessieren, sondern sollte uns als Gesellschaft eigentlich alle angehen!

Fazit: Moreno zeichnet chronologisch nach, wie er den Relotius-Skandal beim Spiegel aufdeckte, und verpackt diese Recherche passenderweise im Reportagenstil. So ist die Story nicht nur reich an Fakten, sondern auch unterhaltsam und spannend wie ein Thriller. Ein absolutes Muss für alle am Journalismus-Interessierten und eine klare Leseempfehlung für alle anderen!


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Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus von Juan Moreno
285 Seiten, Taschenbuch
Erschienen im September 2019
Rowohlt Berlin

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