Mareike Fallwickl mit ihrem Buch "Die Wut, die bleibt" bei einer Online-Lesung
Literatur & Lesung

Online-Lesung „Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl

CN: Suizid, Trauer & Gewalt

Zu Weihnachten habe ich Die Wut, die bleibt von meiner besten Freundin geschenkt bekommen. Ich brauchte also eigentlich nicht viel Überzeugung um das Buch ganz oben auf meinen Stapel ungelesener Bücher zu packen. Dennoch hat es Mareike Fallwickl mit ihrer Lesung vergangene Woche geschafft mich noch neugieriger auf das Buch zu machen – und das möchte ich mit euch teilen!

Doppelbelastung und fehlende soziale Netzwerke

Ich denke wir alle haben im März 2020 und in den darauf folgenden Wochen und Monaten erfahren wie stark die Pandemie unser Leben verändert hat. Wer allerdings zu dieser Zeit ein Kind im Betreuungsalter hatte, der hat den Stillstand der Welt wohl umso heftiger gespürt: Soziale und private Netzwerke brachen weg und insbesondere Mütter mussten in dieser Zeit mit der Doppelbelastung von Arbeit und Kinderbetreuung kämpfen. Genau in dieser Zeit siedelt Fallwickl ihren Roman an und bricht bereits auf den ersten Seiten mit dem wohl größten Tabu: Überwältigt von all der familiären Belastung stürzt sich Helene vor den Augen ihrer Familie vom Balkon. Zurück bleibt ein Vater, der weniger mit den eigenen Kindern überfordert ist als vielmehr seinem elterlichen Aufgabenteil in der Arbeit nachgeht. Die mütterlichen Aufgaben des Familienlebens verteilen sich fortan auf Lola, die 15-jährige Tochter, sowie Helenes beste Freundin Sarah.

Warum das Patriachat für alle problematisch ist

Im weiteren Gespräch spricht Fallwickl über patriarchale Strukturen unserer Gesellschaft, wobei es ihr wichtig ist zu betonen, dass Männer ebenso unter den Rollenbildern leiden würden. Der Vater im Roman geht im weiteren Verlauf seiner Arbeit, seiner Rolle als Versorger, nach doch die Kinder bleiben natürlich nicht alleine, sondern werden betreut durch zwei Frauen, sodass die männliche Anwesenheit gar nicht mehr notwendig sei. Danach spricht Fallwickl über die gesellschaftliche Realität in der Rollenverteilung: 25% der Männer sagen, dass sie gleichberechtigt im Haushalt helfen, aber nur 10% der Frauen bestätigen dies. Dennoch sind Männer weder Bösewichte noch Schuld an den Umständen. Auch wenn das Patriarchat Männer bevorteilt, leiden diese ebenso unter den festgelegten Rollenbildern. So haben Männer beispielsweise eine höhere Selbstmordquote oder sitzen zu größeren Teilen in Gefängnissen.

Dennoch legt der Roman den Fokus auf die Mutter bzw. erziehende Frau, auf die zunehmende Belastung aus der Kombination von Erwerbsarbeit und Care-Arbeit und fehlende gesellschaftliche Unterstützung. Dabei spricht Fallwickl von einer doppelten Vergesellschaftung: Die Gleichberechtigung in der Arbeitswelt und die fehlende Gleichberechtigung im Haushalt führen zu einer doppelten Belastung, die viele Frauen fühlen aber wenige benennen können. Die Pause von der Arbeit ist dabei die Arbeit im Haushalt und umgekehrt. Die Zeit von Müttern gehört dabei nicht ihnen selbst, sodass ein zeitliches Defizit entsteht, wenn sie sich etwas Zeit für sich nehmen, wie Fallwickl es formuliert. Die Zeit von Vätern dagegen gehört weiterhin ihnen selbst und sie verbringen tendenziell eher etwas von ihrer Freizeit mit ihren eigenen Kindern. Hier entlarvt schon die Sprache einen Missstand.

Über weibliche Wut

Als letztes liest Fallwickl einen weiteren Auszug aus der Perspektive der 15-jährigen Tochter Lola vor, welche in dieser schwierigen Situation gegen ihren Willen zu einer Art Mutterersatz gemacht wird. Lola sei im Gegensatz zu anderen Figuren jünger und wütender, während ältere Generationen noch nicht einmal verstanden hätten, dass sie wütend sein dürften. Im weiteren Gespräch spricht Fallwickl dann über weibliche Wut und deren jahrhundertelange Pathologisierung, Sexualisierung und Stigmatisierung. Dabei löse die untypische weibliche Wut im Roman eine heftige Reaktion bei vielen Lesern aus, weil von Frauen ausgehende Gewalt in unserer Gesellschaft extrem tabuisiert sei.

Zum Abschluss sprach Fallwickl dann noch von internalisierter Misogynie und der Schwierigkeit in einem gesellschaftlichen System aufzuwachsen und es zu hinterfragen. Das toxische Klima der Konkurrenz verhindere weibliche Solidarität, sodass stets die scheinbare Konkurrentin bekämpft würde und nicht das System als solches. Gesellschaftliche Rollenvorstellungen, Schönheitsideale und Diäten hielten Frauen körperlich schwach und geistig beschäftigt und hinderten sie daran, eine Revolution anzuzetteln.

Vielleicht ist Die Wut, die bleibt darum genau das, was wir alle brauchen!

Mein persönliches Fazit

Ich hatte Mareike Fallwickl bisher noch nie live erlebt und war überrascht über die herzige Kombination aus scherzhaften Anekdoten und systemkritischen Kommentaren, die sie am laufenden Band abgab. Das Buch habe ich wie bereits erwähnt von meiner besten Freundin zu Weihnachten geschenkt bekommen (sogar mit persönlicher Widmung von Fallwickl, weil meine Freundin ebenfalls eine Lesung besuchte) und nun weiß ich auch ganz genau warum! Die Wut, die bleibt wird definitiv eines der nächsten Bücher, die ich lesen werde…


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Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl
Gebundene Ausgabe
384 Seiten
Erschienen im März 2022
Rowohlt Buchverlag

9 Kommentare

  • LeseWelle

    Hallo Jennifer,
    das Buch steht auch schon auf meiner Lesenliste, denn ich finde das Thema wahnsinnig interessant. Deinen Beitrag zu der Lesung ist sehr spannend und ich denke, das Buch wird jetzt noch weiter nach oben wandern. Ich würde mich freuen wenn es eine Rezension zu dem Buch von dir geben würde, wenn du es gelesen hast. 🙂
    Viele Grüße
    Diana

  • Jacquy

    Hallo Jennifer,
    danke dir für den Lesungsbericht! Ich wollte auch gern teilnehmen, habe aber die falsche Uhrzeit im Kopf gehabt und habe deshalb wegen der Arbeit dann nur noch die letzten paar Minuten mitbekommen. Das Buch habe ich noch nicht gelesen, weil ich bisher nicht die Ruhe hatte, mich auf das Thema einzulassen, aber ich habe es noch fest vor!

    • Jennifer

      Sehr gerne und schön, dass mir dein Kommentar jetzt erst von WordPress angezeigt wird 😅
      Hab das Buch auch noch auf meiner Leseliste und bin schon sehr gespannt

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