Autokorrektur von Katja Diehl
Rezension

Wer hat ein Recht auf öffentlichen Raum? – „Autokorrektur“ von Katja Diehl

Wenn es um die öffentliche Diskussion rund um den Auto- und Nahverkehr geht, hat man allzu oft das Gefühl es gäbe keine Alternative zum Individualverkehr mit dem Auto (wen wunderts bei unserem schlechten ÖPNV). Dabei waren wir nicht immer so abhängig vom Auto, wie Katja Diehl zeigt. Ich verspreche euch: Nach diesem Buch werdet ihr den öffentlichen Raum mit neuen Augen betrachten!

Brauchen wir eine Autokorrektur?

Mit dem provokativen Titel wirft Diehl bereits die Frage auf, ob wir im Bereich Verkehr nicht umdenken müssen. Diehl arbeitete 15 Jahre zum Teil in leitenden Positionen in der Mobilitäts- und Logistikbranche, berät den Verkehrsminister von Baden-Württemberg und engagiert sich im Bundesvorstand des Verkehrsclubs Deutschland e.V. Sie hat also vielfältige Einblicke in die Branche und die Denkweisen in Politik und Wirtschaft. In ihrem aktivistischen Buch entwirft sie die Vision einer bedürfnisorientierten Mobilität der Zukunft und zeigt dabei die Defizite unserer heutigen Verkehrspolitik.

Wo kommen wir her?

Mit jeder Menge Fakten umreißt Diehl unser Denken über Mobilität und insbesondere den Autoverkehr. Das ist nicht nur interessant zu lesen, sondern regt auch zum Nachdenken an. Wusstet ihr zum Beispiel, dass das durchschnittliche Auto in Deutschland nur 3% des Tages bewegt wird? Den Rest der Zeit wartet es brav auf einem Parkplatz. Oder das 80% des Umsatz im lokalem Einzelhandel von Fußgänger*innen, Radfahrer*innen oder Bus- und Bahnfahrer*innen gemacht wird? Soviel zum häufigen Wunsch nach Parkplätzen in Innenstädten. Aber Diehl beschreibt nicht nur den aktuellen Status quo in Stadt und Land, sondern zeigt auch auf wie wir uns seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer stärker vom Auto abhängig machten. Denn letztendlich nimmt das Auto inzwischen einen Großteil des öffentlichen Raums ein, von Straßen über Parkplätzen, und gaukelt dabei eine trügerische Freiheit vor.

Während das Auto vermeintlich den individuellen Mobilitätsbereich vergrößert, hat sich unser gesamtes Leben inzwischen so stark an den Individualverkehr angepasst, dass alle Vorteile umgekehrt werden. So haben wir heute riesige Einkaufszentren und zentral gelegene Einzelhandelsballungen in Innenstädten, während sich früher Geschäfte ebenso wie Ärzte oder andere Dienstleistungen dezentraler auf Kleinstädte oder Stadtviertel verteilten. Und auch die Arbeitswege haben sich mehr als verdoppelt, sodass die Möglichkeit einen weiter entfernten Arbeitsplatz dank Auto anzunehmen, nun zu einem Verlust an persönlicher Freizeit wird. Denn während das Auto auf dem Vormarsch war, wurde der ÖPNV systematisch eingeschränkt, sodass wir heute im wahrsten Sinne auf das Auto angewiesen sind. Ist das ein Zustand in dem wir leben wollen?

Wo wollen wir hin?

Was mir besonders gut gefallen hat, war, dass Diehl nicht einfach eine Debatte um Auto vs. ÖPNV aufmacht, sondern weitaus inklusiver denkt. Ihre Vision einer bedürfnisorientierten Mobilität denkt Fußgänger*innen und Radfahrer*innen mit, ebenso wie Mobilitätseingeschränkte oder auch einfach alte Menschen. Denn ja, auch alte Menschen haben ein Anrecht auf Mobilität, aber ohne Auto und ohne die Möglichkeit einen nahegelegenen ÖPNV zu nutzen oder sich auf einer Parkbank auszuruhen, wenig Möglichkeiten sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Und um diese Frage geht es am Ende: Wie gestalten wir den öffentlichen Raum so, dass er von möglichst vielen Menschen genutzt werden kann ohne einzelne Gruppen auszuschließen. Dabei zeigt sich immer wieder wie omnipräsent das Auto in unserer Gesellschaft geworden ist – ein augenöffnender Moment auch für mich, die ich mich als Fußgängerin und ÖPNV-Nutzerin doch ständig um parkende Autos herum bewege oder über Autos ärgere, die mir als Radfahrerin mit einer Selbstverständlichkeit die Vorfahrt nehmen.

Am Ende geht es nicht nur um die Frage wie wir den Verkehr gestalten wollen, sondern auch um die Frage wie wir unsere Städte und Stadtgebiete gestalten wollen. Und ich denke, dass wir alle von Veränderungen weg vom Auto profitieren können. Ob dieses Buch jedoch auch große Auto-Befürworter überzeugen kann, das muss die Zeit zeigen. Ich jedenfalls werde das Buch noch dem einen oder anderen in meinem Bekanntenkreis ausleihen und bin schon sehr gespannt was diese davon halten werden.

Fazit: Diehl beschreibt wie wir uns zu einer Auto-Nation entwickelten, welche Probleme unsere aktuelle Zentrierung auf den Individualverkehr mit sich bringt und was sich ändern muss, damit wir alle mehr vom öffentlichen Raum haben. Ein Plädoyer für eine bedürfnisorientierte Mobilitätsgestaltung, die inklusiv und offen ist. Regt zum Nach- und Neudenken an!


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Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt von Katja Diehl
Illustrationen von Doris Reich
272 Seiten
Taschenbuch
Erschienen im Februar 2022
S.Fischer Verlag

2 Kommentare

  • Bettina

    Hoi Jennifer,

    die Ausgewogenheit hat mir an diesem Buch auch gut gefallen – Status quo + Visionen. Ich denke, die brauchen wir tatsächlich! Wenn man sich überlegt, in welch kurzer Zeit wir uns vom Auto so abhängig gemacht haben (es sind nur wenige Jahrzehnte) und viele Menschen heute schon keine Alternativen oder Entwicklungen mehr sehen können, dann sind Visionen enorm wichtig.

    Liebe Grüße
    Bettina

    • Jennifer

      Hallo Bettina,
      ja wie kurz unsere Auto-abhängigkeit eigentlich ist hat mich auch sehr überrascht. Da sieht man mal, was für eine Wahnsinnslobby dahinter steckt.
      Fand es auch sehr spannend zu sehen wie inklusiv man Verkehr eigentlich denken muss um alle mitzunehmen…
      Liebe Grüße
      Jennifer

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