[Kolumne] Aus der Perspektive der Leserschaft | Sensitivity Reading
Was haltet ihr davon?

[Kolumne] Aus der Perspektive der Leserschaft | Sensitivity Reading

Sensitivity Reading wird immer wieder heiß diskutiert. Auf der einen Seite haben wir Autor*innen, die sich verbitten, dass andere ihnen vorschreiben, wie sie ihre Werke zu schreiben haben. Auf der anderen Seite stehen Betroffene von verschiedenen Marginalisierungen, die sich gerne vielfältiger in der Literatur (und im Film usw., aber ich werde hier vereinfachend immer von Literatur sprechen) repräsentiert sehen möchten.

Schreibende Autoren und der böse Markt

Im Folgenden möchte ich einmal die Perspektive wechseln und dabei vielleicht ein wenig zum Nachdenken anregen. Die folgende Tatsache mag vielleicht nicht jedem schmecken, aber sie ist nun einmal Fakt: Die meisten Menschen schreiben nicht nur zur persönlichen Freude, sondern möchten damit auch Geld verdienen. Wer für die eigenen Schublade schreibt, der muss wahrlich keine komplexen diversen Figuren (oder allgemein komplexe Figuren) in seinen Werken einbauen, sondern kann ganz ohne Recherche und nur nach eigenem Gutdünken seine Geschichten erfinden. Wer jedoch ernsthaft Geld mit seinen Büchern verdienen möchte, der muss quasi den Markt bedienen. Darüber kann man die Nase rümpfen und von Kunstfreiheit jammern, alleine es ändert an dieser simplen Tatsache nichts: Veröffentlichte Bücher, bei deren Erzeugung Kosten entstehen, müssen sich wirtschaftlich tragen.

Was wollen Leser*innen?

Einige Leser*innen, ich erwähnte es oben bereits, wünschen sich eine bessere Repräsentation von diversen Figuren. Dazu müssen sie nicht einmal selbst Betroffene sein, ich selbst gehöre beispielsweise keiner marginalisierten Gruppe an und lese dennoch mit großem Interesse und Neugier von diversen Figuren. Natürlich kann man sich nun die Verhältnisse der Leserschaft ansehen und argumentieren, dass die Gruppe an Leser*innen (also vor allem die Gruppe von Betroffenen) über die wir hier sprechen zu klein ist um tatsächlich über die reine Kaufkraft relevant zu sein (ich kenne ehrlich gesagt keine Zahlen zum Verhältnis, möglicherweise ist die Gruppe auch größer als sie auf den ersten Blick scheint). Das spielt aber bei genauere Überlegung eigentlich keine Rolle, denn unabhängig davon, ob man nun marginalisiert ist oder nicht, bleibt die Frage bestehen: Was wünschen sich Leser*innen? Und die Antwort lautet quer durch alle Genre: Eine gewisse Qualität und Wahrhaftigkeit, auch in der Fiktion. (Ich schreibe gerade über Fiktionalisierung und Wahrhaftigkeit eine Masterarbeit, seht es mir also bitte nach, wenn ich zurzeit manchmal intellektueller klinge als nötig).

Oder wie Babsi, die mich zu dieser Kolumne inspiriert hat, es ausdrückt:

„Für Kriminalromane treffen sich Autor*innen teilweise auch mit Polizist*innen, schauen sich Dokumentationen und Interviews über Verbrechen an, lesen Berichte und recherchieren (im Idealfall). Das heißt auch nicht, dass nur noch Kriminalbeamt*innen oder Mörder*innen Krimis schreiben dürfen oder sollten. Es geht darum, seine Hausaufgaben zu machen. Darum, dass man eben in vielen Bereichen denkt, Ahnung zu haben und reflektiert zu sein, es aber nicht ist.“

Quelle: Bluesiren.de

Leser*innen möchten Fakten, die sie für wahrhaftig halten können. Und Leser*innenvertrauen lässt sich nicht so einfach wieder herstellen, wenn es einmal verspielt wurde. Die bekannte Autorin Jody Picoult mit ihrem Roman In den Augen der Anderen ist da ein schönes Beispiel. Ich habe Picoults Romane immer gerne gelesen. Aber ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass viele Autist*innen Picoult ungenaue Recherchen und eine schlechte Darstellung vorwarfen. Und wenn Picoult anscheinend an dieser Stelle ungenau recherchiert hat oder ihr eine richtige Darstellung nicht wichtig genug war, dann frage ich mich natürlich bei anderen Romanen, ob ihre Darstellung von Gerichtsverfahren auf realen Tatsachen beruhen. Der ganze Schlamassel um Picoult ist eigentlich auch deshalb besonders bitter, weil Picoult bevorzugt über moralische und ethische Dilemma schreibt und ich mir von ihr eine größere Sensibilisierung erwartet hätte. Hier findet ihr eine Kritik von In den Augen der Anderen bei Elodiy la curios

Sensitivity Reading? – Ja oder Nein?

Natürlich muss niemand die eigenen Bücher durch Sensitivity Reading überprüfen lassen. Natürlich können Leser*innen sich Sensitivity Reading wünschen, es aber nicht einfordern. Aber ich denke, dass wir Leser*innen zunehmend sensitiver für die Darstellung von marginalisierten Personen werden. Und daher tun sich Autor*innen gut daran, ihre eigene Darstellung zu überprüfen, falls sie unsicher sind, ob ihre Darstellung ihren Figuren gerecht wird. Und eine kurze Bemerkung zum Vorwurf, mit Sensitivity Reading wolle man ja nur Geld machen: Niemand würde von einer Lektorin oder einem Coverdesigner erwarten, dass sie umsonst arbeiten. Menschen, die sich für Senisitivity Reading einsetzen und dieses auch durchführen, besonders wenn sie selbst sehr stark mit der Buchbranche verwoben sind, tun dies nicht hauptberuflich, sondern in ihrer Freizeit. Aber warum sollten sie es ehrenamtlich tun? Es ist ja schließlich kein schönes Hobby, sondern eher eine unliebsame Notwendigkeit!

3 Kommentare

  • Fraggle

    Guter Beitrag!

    Ich denke, im Grunde haben beide Seiten da ein bisschen recht. Einerseits kann die Leserschaft anmerken, dass man, wenn man „marginalisierte Personen“ – ich habe ein kleines Problem mit dem Begriff, weil er mir unnötig kompliziert erscheint – in sein Buch integriert, dann auch eine entsprechende Sorgfalt walten lassen müsste. Andererseits haben Autorinnen und Autoren ebenso recht, wenn sie sagen: „Mag sein, aber in meinem Buch ist alles so, wie ich es für richtig halte. Das soll so. Passt schon!“

    Schwierig wird es meiner Meinung nach, wenn die Kritik, na, sagen wir nicht „unsachlich“, sagen wir „überzogen“ stattfindet. Ich mache das beispielhaft mal am Buch „Artemis“ von Andy Weir fest. Da wurde Herrn Weir – angesichts einer Protagonistin, die ich persönlich mochte, die aber nachvollziehbarerweise Kritik hervorrufen kann – vorgeworfen, er als Mann könne gar keinen Roman aus Sicht einer Frau schreiben. Natürlich ist mir klar, dass es sich bei Frauen allgemein, nicht um „marginalsierte Personen“ handelt, so wie ich den Begriff verstehe. 😉 Zusätzlich gab es aber auch Stimmen, die Weir in seinem Buch Disablismus, Sexismus und Homophobie vorgeworfen haben – Dinge, auf die ich beim Lesen des Buches nicht im Ansatz gekommen wäre. Vielleicht sehe ich manches aber auch schlicht entspannter als andere und bin häufiger bereit, Dinge als „das soll so“ zu akzeptieren. 🙂

    • Jennifer

      Hi Fraggle,

      danke für deine ausführliche Antwort und entschuldige bitte, dass ich erst nun zum Antworten komme.

      Ich glaube, ganz allgemein gesagt, dass solche Themen umso unsachlicher werden, je emotionaler sie betroffen machen. Das Beispiel Artemis, von dem du sprichst, habe ich beispielsweise vor allem als sexistisches Buch wahrgenommen (also wie andere es verrissen haben, ich selbst kenne das Buch nicht) und bin da natürlich auch schneller kritisch bei einem objektivizierenden Buch eines Mannes über eine Frau als beispielsweise wenn das gleiche Buch von ner Frau geschrieben würde. Wahrscheinlich kommt es auch extrem drauf an, ob man auf einen bestimmten Aspekt Wert legt oder eben nicht, wie du es ja auch beschreibst.

      Was mir in der Diskussion ums Sensitivity Reading häufig auffällt sind Positionen, die davon sprechen, dass man bestimmte Sachen schreiben „müsse“ und dass das Meinungsfreiheit unterdrückt. Dem ist natürlich nicht so. Niemand MUSS irgendwas schreiben oder denken. Aber, und darum ging es mir hier, man muss eben auch damit rechnen, dass Leser sich etwas wünschen oder eine (aus ihrer Perspektive) falsche Darstellung kritisieren. Ich merke das immer wieder, wenn verächtlich von Buchbloggern gesprochen wird (besonders im Feuilleton oder in der Zeitung allgemein sehr beliebt, aber zunehmend auch in der Uni), weil ich mich dann einfach falsch dargestellt fühle. Ich kann nicht einmal ermessen, wie es jemandem wohl gehen mag, der zB seine eigene Krankheit absolut falsch im Krankheitsbild oder in der „Heilung“ (besonders in Jugendromanen oft wie durch ein Wunder namens Liebe) dargestellt findet…

      Aus Interesse, was hättest du denn statt „marginalisiert“ geschrieben?
      Ganz viele Grüße aus Leipzig,
      Jennifer

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